© Marko Martin

Marko Martin

Ein Teppich in der Hollywood Road oder Die letzten Tage von Hongkong

Angesichts der Fakten, des Offensichtlichen, des Nicht-länger-zu-Leugnenden, des bis zum Überdruss Kommentierten: Diese Müdigkeit, für Wochen. Irgendwann ein Zögern. Unwille auch, eine Art Dabei-gewesen-sein zu behaupten, um gegen etwas „anzuerzählen“. Hybris. Und dennoch.
Schließlich war es ja so gewesen, dass sie bereits am 4. Januar zum ersten Mal von der Existenz einer Millionenstadt namens Wuhan erfahren hatten, in der es zu einer merkwürdigen Häufung von Lungenkrankheiten gekommen sei, was von Seiten der Offiziellen allerdings als irrelevant bezeichnet werde. (Ein Zeitungsartikel in der zumindest noch viertel- oder gar halbfreien South China Morning Post, auf Seite 3.)
Wie immer in jener Woche waren sie am frühen Vormittag aus dem Hotel in der Des Voeux Road West gekommen, hatten das Läuten der Doppelstock-Straßenbahnen gehört, die hinüber nach WanChai fuhren (in die einstige „Welt der Suzie Wong“), und bekamen erneut den Geruch von Trockenfisch in die Nase, der in Groß- und Kleintransportern in die Geschäfte des Viertels geliefert wurde oder von gedrungenen Männern in Unterhemden umgeladen auf Handkarren, denen auf dem Trottoir tunlichst auszuweichen war. Und wie jedes Mal zuerst der Gang zum winzigen Zeitungskiosk an der Ecke zur Bonham Street, zum grimmigen Vergnügen späterer Mittags- oder Abendlektüre: Würde die staatsoffizielle China Daily auf ihrer „Opinion“-Seite (perfekte Travestie und Umdeutung wirklicher Meinungsvielfalt) erneut gegen die Massendemonstranten vom Neujahrstag hetzen und Euphemismus-Experten vom chinesischen Festland darlegen lassen, dass  es - in ihrer, durchaus spöttisch-unfrohen auswärtigen Besucher-Interpretation - nun auch für Hongkong höchste Zeit war, sich von Anachronismen wie Gewaltenteilung, unabhängiger Justiz, Meinungs- und Demonstrationsfreiheit zu verabschieden, auf dem historisch unaufhaltsamen, breiten und leuchtenden Weg hin zu einem effizienten, leninistisch durchgepeitschten Hyper- und Digitalkapitalismus?
Selbstverständlich stand dann genau solches auf der (Partei-)Meinungsseite, wie an allen Tagen zuvor. Das Gleiche in Abwandlungen bereits in den Schlagzeilen und sogar im Wirtschaftsteil, in dem, als wäre es ein Endlos-Tape, mit hämischer Präzision dargelegt wurde, wie Demonstranten und „Lobbygruppen“ (gemeint waren Gewerkschaften) die städtische Wirtschaftskraft unterminierten, während doch zur gleichen Zeit die festlandchinesische Sonderwirtschaftszone Shenzhen, ein paar Kilometer hinter der Grenze gelegen, weiterhin ungehindert boome, da die dortige loyale Bevölkerung objektive Prioritäten erkenne.
Derart deprimierend war die selbstgewisse Rabulistik der Macht, nein: der Weltmacht, dass sie sich die tägliche Lektüre tatsächlich für die Mittag- und Abendessen aufsparten, bei denen  die Kommandosprache - zumindest in ihrem Besucher-Rhythmus hier in der Stadt - noch einigermaßen einhegbar schien, da sie doch währenddessen Dim Sum oder Nudelsuppe essen konnten und über ihre Streifzüge sprachen, über die geplanten und die kommenden; auch über jene nach dem Dinner, mit dem Taxi oder zu Fuß hoch zu den Bars in die Hollywood Road, auf der - zu anderen Zeiten war´s gewesen - die mysteriöse Protagonistin von Robbe-Grillets noveau roman „Die blaue Villa in Hongkong“ zu mitternächtlicher Stunde ihre Hunde ausgeführt hatte und... Und  einer von ihnen beiden wieder ins Erzählen kommen konnte über seine vorherigen Aufenthalte in der Stadt vor anderthalb Jahrzehnten, als vieles zumindest noch in fragiler Balance schien und nicht bereits hinter der Kippe. Damals war´s, 2006 und 2007 und 2010, als Enzensbergers „Hong Kong 1997“, geschrieben nach der Übergabe der britischen Kronkolonie an die VR China, die sich vertraglich zu einem fünfzig Jahre währenden „Ein Land, zwei Systeme“ verpflichtet hatte, in tänzelnden Zeilen noch immer Gültigkeit gehabt hatte. Nein, diese Stadt, in der hundert Blumen verblühen,/ kann es nicht geben. Das ist ein Hirngespinst,/ eine Halluzination ist es, eine Fälschung,/ eine Science-Fiktion-Oper, ein wackliges Wunder.

Inzwischen hatte mit Gesichtserkennung und Datenabgleich, mit einem „sozialen Punktesystem“, das vom vernachlässigten Großeltern-Besuch bis zum allzu schnellen App-Herunterscrollen der Reden des Großen Vorsitzenden Xi schier alles zu kontrollieren und zu sanktionieren schien, die Science-Fiction-Realität in der Volksrepublik sogar George Orwell um Längen überholt, und es würde nur noch eine Frage der Zeit sein, bis solches auch ins noch halb-autonome Hongkong hineindiffundierte - oder aufgedrückt wurde per Ukas. Waren nicht bereits viele der Gesprächspartner, deren Angstfreiheit ihn auf den vorherigen Reisen so beeindruckt hatte, inzwischen längst entschwunden - ins mehr oder minder freiwillige Exil nach Kanada, Großbritannien, Australien und in die Vereinigten Staaten? (Gab es nicht auch Gerüchte, jenes vielleicht ja typisch verletzte und verletzende Rückzugs-Wispern, dass einige der Hiergebliebenen schließlich doch den Lockungen der Macht nachgegeben hatten oder schlicht aus Sorge um ihre Familien von einer unabhängigen NGO in die städtischen Verwaltungsstrukturen gewechselt waren, um Schlimmeres zu verhindern?
Und war nicht auch die andere Zeitung, die sie an jenem Vormittag des 4. Januar ebenfalls gekauft hatten und - vermindert um deren voluminöse Werbebeilagen - beim Flanieren durch die Stadt mit sich trugen, längst domestiziert worden? Manchmal war es gar so, dass die ehemals so stolze South China Morning Post schon beinahe genauso klang wie die direkt dem Pekinger Regime unterstellte China Daily. Seit der festlandchinesische Internetversandriese Alibaba die traditionsreiche Hongkonger Post gekauft hatte, waren kritische Texte immer mehr zur Seltenheit geworden, ganz zu schweigen von den investigativen Reportagen über Gefängnisse, Straflager, und verfolgte Oppositionelle, die ihn in ihrer Detailfülle anderthalb Jahrzehnte zuvor noch in eine Art wütender Euphorie versetzt hatten: Ein Territorium aus Stein und himmelragenden Wolkenkratzern, flankiert von grünen Hügeln und Bergen und unzähligen winzigen Eilanden, in denen noch immer das gesagt und geschrieben werden konnte, was nur ein paar Kilometer weiter ein Straftatbestand war, zu beantworten mit eben jenen Lagern und Gefängnissen.
(Als wär´s eine Art bergendes und schützendes Westberlin-nach-1961 oder ein asiatisches Tel Aviv? All das freilich mit dem Unterschied, dass die uniformierten Volksbefreiungskräfte der Volksrepublik China unsagbar schlagkräftiger waren als NVA, Hamas und Hizbollah zusammen und bereits in der Nacht des „Handover“ vom Juli 1997 mitten in der Stadt Quartier bezogen hatten, im ehemaligen Prince of Wales Building.)

Einer jener Hongkong-Tage, damals: Zum Frühstück die Post, danach ein Umherstreifen in den engen Straßen mit ihren rechteckigen Ladenschildern in knallbunten kantonesischen Schriftzeichen, mit der geräuschvoll durchs Wasser tuckernden Personenfähre von Kowloon hinüber nach Hongkong Island und dort, vorbei an den Gucci- und Prada-Läden und im Schatten gigantischer Bankgebäude, nach Anmeldung hinein in die Korridore des zumindest zu einem Drittel freigewählten LegCo/Legislative Council und unter dem Geräusch träge rotierender hölzerner Ventilatorblätter an eine der Türen geklopft. In ihrem kleinen Abgeordnetenbüroeine grazile, charmante und entschiedene Emily Lau, die ihr stadtbekanntes Label als „Mutter der Demokratiebewegung“ souverän weglächelt, sich weder bei Eitelkeit noch Empörungs-Rhetorik aufhält, sondern - jeder Satz ein Fakt - detailliert darlegt, wie quasi jeden Tag Peking den Autonomiestatus der Stadt immer weiter unterhöhlt: „Parteikommunisten und einheimische Wirtschafts-Tycoone gemeinsam gegen allgemeines Wahlrecht und unabhängige Schul- und Studienlehrpläne.“
(Und dann, im darauf folgenden Jahr nach einem erneuten Gespräch: Emily Laus zur Sicherheit auf einen Schreibblock gekritzelte Bitte, ein ihr soeben zugegangenes Dossier doch an sich zu nehmen und ein paar Straßenblöcke weiter in ihrem Privatbüro abzugeben. Sie vertrauen mir? - Keine Sorge, junger Mann, ich weiß, was ich tue; Smiley. Wiederum dieses Lächeln, ihre herzliche Verabschiedung, die in winzige Fitzelchen zerrissene Notizblockseite und anschließend ein kleiner, im Grunde völlig unspektakulärer Kuriergang zwischen dem blendendweißen Kolonialbau des LegCo und einem Glas- und Betonhochhaus gleich in der Nähe. Kleines Erinnerungs-Medaillon, voller Dankbarkeit.)

Dennoch: Nein. Es war nicht so, als hätte er mit all diesem sympathisierenden Befragen und Beschreiben der Hongkonger Aktivisten-Szene noch im Nachhinein jener DDR eins oder tausend auswischen müssen, die er doch schon im Mai ´89 verlassen hatte, einen Monat vor dem Massaker an den Pekinger Studenten auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Aber ein bisschen von einem Westberlin-vor-Mauerfall-Gefühl war eben doch dabei gewesen. Auch wenn er sich gegen solch sentimentalische Projektion noch im Nachhinein zu wehren versucht, jetzt wo er, wie seit über zwei Jahrzehnten in ihrem Leben und auf ihren gemeinsamen Reisen, die Fragen, die ihm H. auf französisch stellt, ebenso auf französisch beantwortet. (Filter, Schutzschilde, Entfernungen, die Möglichkeiten anderer, nicht-ostdeutscher Erfahrungen.)
So ist´s dann schließlich sogar ein zweifaches Mais Non, denn rührte die Desillusionierung, die ihn nun bei aller Freude des Wiedersehens mit der Stadt ergriffen hatte, womöglich noch von woanders her? Nostalgie etwa, da der einst von Emily Lau apostrophierte „junge Mann“, der am Spätabend jenes Tages noch durch die Clubs von Hongkong Island und Kowloon gedriftet war, inzwischen um ein weiteres Jahrzehnt älter geworden ist? (Mais Non.)
Da zumindest das doch weitergeht wie zuvor und er nun sogar Guide spielen kann für ihre nachmitternächtlichen Ausflüge zu zweit: Ein Switchen und Gleiten zwischen den Stadtwirklichkeiten, denn auch wenn es in der Nähe des hektischen Nachtmarkts in der Temple Street im Triaden-Bezirk Mongkok den ABC-Club inzwischen nicht mehr gibt (und im luxuriöseren Viertel Causeway Bay ein Ort mit dem sprechenden Namen Towel Club ebenfalls seine Pforten geschlossen hat), andere Bars, Clubs und Saunen existieren ja weiterhin - Tempel des Hedonismus jenseits jeglichen pekuniären Kalküls. Unverfälschtes Begehren, mutwillige Vermischungslust und nicht wenige studentische Besucher aus Mainland China, die die Nacht in den Schlafkabinen etwa des Soda-Clubs verbringen oder, gutgelaunte Jäger, bis in die frühen Morgenstunden herumgehen im verspiegelten Areal mit seinen Matratzen und Doppelstockbetten. Und sich dann (da solches doch immer das Entscheidende war und ist, Epiphanie des Davor oder Danach, unvergesslicher jedenfalls als die erwartbare Mechanik des Sinnlichen) -  in den Ledersesseln des Fernsehraums sogar ein Hüsteln zutrauten, schüchternes Echo des lauten Gelächters der gleichaltrigen Hongkong-Chinesen: Im Peking-offiziellen TV schluchzte vor dem blutrot gesprenkelten Steinlöwen eine alte Frau.

Zwei oder drei Abende zuvor, nach der Millionen-Demonstration vom Neujahrstag, war die wuchtige Skulptur vor dem Eingang der HSBC-Bank, die mit dem traditionellen und gegenwärtigen China assoziiert wurde, von vermummten Aktivisten mit roter Farbe übergossen worden. Ins hilflos Symbolische umgeleiteter Zorn junger Leute auf das Parteiregime, das nun auch ihre Stadt in den Würgegriff nahm - oder im Gegenteil das Werk von agent provocateures, die dafür sorgten, dass genau jene Chaos-Bilder entstanden, die dann von den china-treuen Medien genüsslich verbreitet wurden? Doch war das herzzerreißende Jammern der herbeigeholten Alten vor dem Hintergrund temporär rotgefärbten Steins mit jeder Wiederholung unglaubwürdiger geworden; die im Fernsehen gezeigte Endlosschleife wurde erz-komisch, und es geschah im Soda-Club an der Hennessy Road, dass darob sogar junge Festlandchinesen jenes distanzierte, amüsierte Hüsteln gewagt hatten, im Schutz dieses Ortes und der fortgeschrittenen Nacht.
Vermutlich aber hatte dennoch keiner von ihnen an jener Massendemonstration teilgenommen, die Bürgerrechte und Rechtsicherheit für Hongkong einforderte; als sie, die beiden Auswärtigen, auf englisch Fragen in dieser Richtung zu stellen begannen, verstanden die Festlandchinesen, die doch zuvor noch vernehmlich von westlichen A-class-gyms wie Holmes Place geschwärmt hatten, auf einmal kein englisch mehr und behaupteten mimisch plötzliche Müdigkeit, während sogar manche der jungen Hongkonger abwinkten, als wären sie bereits Greise oder zumindest resignierte Familienväter: Too late.

Und doch war mindestens eine Million ihrer städtischen Nachbarn, beinahe zehn Prozent der Bevölkerung, an jenem 1. Januar auf den Straßen gewesen. Ein schier unendlicher Menschenzug, friedlich und seine Angst überwindend und in allen Generationen; sogar sie, die zwei Hongkong-Besucher, konnten es bezeugen. Hochgehaltene Plakate, Fahnen: Liberate Hongkong, #StandWithHongkong, Revolution Now. Weiße Schrift auf anarchisch-schwarz wehendem Stoff und gleich dahinter und davor und mittendrin - ein Fahnenmeer voller Stars and Stripes. Dazu der Union Jack der einstigen Kolonialmacht Großbritannien, die zumindest moralisch in die Pflicht genommen werden sollte, die 1997 viel zu arglos der kommunistischen Volksrepublik überlassene Stadt nicht völlig zu vergessen. US- und britische Fahnen auf einer Revolutions-Demo, die jedoch nicht den Umsturz, sondern den Erhalt der Verhältnisse gefordert hatte: fortgesetzte Autonomie und rule of law in jenem winzigen Stadt-Teil der Weilt, der auf der Karte im Vergleich zum riesigen China höchstens als Pünktchen erscheint. Was sie sahen: Jener Westen, der vor Peking kuscht und ansonsten vor allem mit sich selbst beschäftigt scheint, dennoch weiterhin als die Referenz - trotz Trump, Johnson und trotz alledem und alledem.
Wenn schon eine „Und wir?“-Perspektive, dachten die beiden Besucher - und sagten es einander, da sie in diesem Moment ja tatsächlich das gleiche gedacht hatten -  inmitten der vom Victoria Park hinüber nach Central strömenden Hunderttausenden, ihre Sprechchöre rufenden Jungen, Mittelälteren, Großväter und Großmütter mit ihren Enkeln, mit und ohne Atemmasken, die vor Tränengas und staatlichen Kameras schützen sollten, wenn schon eine Frage „an uns“, dann vielleicht diese: Was wäre, wenn die westliche Heerschar all jener Postcolonial-studies-Akademiker - die doch, by the way, für den postsowjetischen Kolonialimperialismus des Putin-Regimes so gar kein Forschungsauge zu haben schienen - vielleicht mal kurz hierher schauen würde, um das eigene Weltbild wenigstens ein bisschen zu weiten?

Was sie sahen: Wie der junge und sympathisch un-charismatische Joshua Wong irgendwann von seinem provisorischen Rednerpodest steigt, das Megaphon einer Mitstreiterin in die Hände drückt, an seiner Studentenbrille ruckelt, seinen Rucksack packt und dann im friedlich demonstrierenden Menschenmeer verschwindet, einer von vielen. Zuvor hatte sich der 23jährige, offensichtlich eher verlegen, noch auf die Bitten seiner Altersgenossen nach ein paar Selfies eingelassen, und H. sagte, leise und auf französisch: Gib Gott, dass sie nicht irgendwann dafür bestraft werden und er ins Exil muss. Der verblüffend unscheinbar wirkende bebrillte große Junge, der schon als Schüler gegen Pekinger Einflussversuche protestiert hatte und kurz vor Jahresende in Washington von Nancy Pelosi empfangen worden war, hatte sich zu ihnen umgedreht, fragendes Lächeln im Gesicht. Where do you come from?
Sie hatten die Sprache gewechselt, ihre Befürchtungen (die vermutlich ohnehin alle hier teilten) verschwiegen und Berlin gesagt. Joshua Wong lächelte und erwähnte seinen Aufenthalt in der Stadt, und der Nachdruck, mit dem er the wall und downfall und freedom sagte, schien den beiden auch deshalb so suggestiv, da der Junge doch ganz offensichtlich keine Formeln gebrauchte, kein Rhetorikbesteck vorzeigte, sondern die Worte (trotz all seiner höflichen Zurückhaltung) jetzt beinahe herausstieß, stockend und doch dringlich; fast wäre ihm der Rucksack von der Schulter gerutscht. Sie verabschieden sich, und einer der zwei Besucher ist  beinahe erleichtert, dass das so schnell geht im Menschengewühl: Irritierendes Gefühl (nun bereits auch schon wieder seit über drei Jahrzehnten und ihn dennoch weiterhin beschämend), inzwischen längst selbst der Besucher aus dem Westen zu sein - der mit dem schützenden Pass, der mit dem Luxus perspektivischer Analysen. Dabei war es nicht so - noch nicht - dass man sie beide in der Stadt hektisch oder ängstlich flüsternd angesprochen hätte, dass man ihnen unbedingt etwas hatte mitteilen wollen, das ansonsten  nicht mehr sagbar gewesen wäre. (Noch gab es ja die Megaphone und die Stimmen Hunderttausender, die ihre Forderungen kundtaten, noch wurden auf Facebook und Instagram die Bilder der Demonstration gepostet, noch verabredete man sich auf Telegram zu sit-ins auch außerhalb des Zentrums, um in den Straßen und abgelegeneren Plätzen der New Territories die Anwohner davon zu überzeugen, dass man doch auch für sie demonstrierte, denn wo blieben soziale Rechte und die Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum und sauberer Umwelt, falls es irgendwann nicht mehr die Möglichkeit gab zu freier Rede? Noch war in diesen frühen Januartagen 2020 solch innerstädtisches Gespräch möglich.) 

 

Es war jedoch auch so, dass die zwei Auswärtigen immer wieder von jungen Leuten - in der Warteschlange vor Museen, in Cafés und Clubs, sogar in der MTR, der Hongkonger Metro -  auf „Fridays for future“ angesprochen wurden. Doch weder anklagend noch spöttisch und schon gar nicht relativierend wurde da von den Protesten in den Großstädten des Westens gesprochen, eher mit beträchtlicher Sympathie und einer Hoffnung auf Solidarität. Wie aber fürs Klima demonstrieren, fragten diese Hongkonger (und hoben dabei die Stimme nicht, sondern blieben bei Zimmerlautstärke selbst im Wochenendlärm des Ausgehviertels von Lan Kwai Fong), wie also für ökologische Belange streiten, ohne dabei zu mitzudenken, dass gerade eine neue Globalmacht gezielt an einem Programm arbeitete, in dem Demonstrationen fürderhin flächendeckend verboten, Demonstranten zuerst gesichts-gescannt und anschließend sozial geächtet, ja für Jahre weggesperrt werden und stummer, apolitischer Konsum das vorgegebene Ideal sei, das alleingültige politische Klima?
„Auch nur ein Wort dazu von Greta…“, sagten viele der jungen Leute (nicht: als hätten sie sich in ihrer Rhetorik abgesprochen, sondern weil es die Existenz eines jeden von ihnen betraf) und sagten´s überhaupt nicht im Ton eines hämischen what-aboutism. Erzählten stattdessen mit trotziger Freude - doch noch immer quasi zwischendurch, „zwischen Tür und Angel“ der automatisch öffnenden und schließenden MTR-Türen, beim schnellen Mittags-Lunch in der Nathan Road oder sonstwo auch jenseits von Galerien, Bookstores und Alternativ-Cafés - wie sie sich organisierten, nämlich kaum noch über das fast schon altmodisch gewordene Facebook, sondern - Ironie der Geschichte - über eben jenen russischen, doch kreml-unabhängigen Messengerdienst Telegram. Dort würden, so erzählten sie, zur Verwirrung der gewiss mitlesenden Spitzel und Zensoren unverfängliche Verabredungen zum Shoppen oder Pokémon-Go-Spielen zu Synonymen für Spontan-Demos - und zwar (das war ihnen besonders wichtig, und es wurde in fast allen Gesprächen erwähnt und wiederholt)  nicht  nur auf den Shopping-Meilen von Central und Causeway Bay, sondern, um die gesamte Bevölkerung zu erreichen, auch auf der anderen Hafenseite in den engen Gassen von Kowloon und Mongkok, ja selbst im Häusermeer der New Territories, wo dann freilich das Risiko, gewalttätigen, chinesisch gesteuerten Triaden in die Hände zu fallen, am größten sei. Dennoch gelte gerade dort „Be water!“ als ihre Devise, ein Gleiten überall hinein in die städtischen und vorstädtischen Räume - und die Formel lustigerweise von Bruce Lee übernommen, dem 1973 so jung verstorbenen Action-Schauspieler und Held ihrer Großeltern, als made in Hongkong hauptsächlich noch mit Asia-Talmi und Exotik-Plunder assoziiert worden war.
Und wiederum bei alldem: Kein juveniles Renommieren, keine eisige „Und was tut Ihr?“-Rhetorik, stattdessen eine verblüffend freundliche Ernsthaftigkeit, fest davon überzeugt, hier in der Stadt - und stellvertretend für die übrige, noch größtenteils ignorante Welt - in einem Frontkampf zu stehen gegen das Pekinger Menschenbild des digital totalüberwachten Konsumenten-Untertanen.

Während an jenem Neujahrstag noch lange nach Sonnenuntergang Demonstranten aus Richtung Victoria Park auf die Hennessy Road geströmt waren, hatten sie beide, geleitet von den freundlichen Angestellten des MTR, die an den U-Bahneingängen D1 und D2 die ersten Heimkehrer über die gegenwärtige Zugtaktung informierten, die Island Linie genommen und waren in Central, Ausgang D2, wieder ausgestiegen, hinein in einen neuen Hongkong-Abend. Schaufenster-Illuminationen, Scheinwerfer und rote Rücklichter der schnittigen Wagen, die auf der Queens Road hügelan glitten, Neonleuchten über Blumenläden und Gemüseständen und in den Nebengassen im Schatten von Luftwurzelbäumen schon die ersten Lichter an den Eingängen der Bars: Die Metropole wurde zum Dörfchen und blieb dennoch Großstadt. Schmale Treppen zwischen den Gebäuden am terrassierten Abhang, die schon Robbe-Grillet an Montmartre erinnert hatten und einen der zwei Besucher an die vorherigen Aufenthalte: Illusion von Geborgenheit und dazu eine Exotik, die kein Klischee war, da ja pure Realität innerhalb der Stadt und deshalb exotischallein in seiner Wahrnehmung. (Womöglich also doch East meets West, was auch immer Kiplings legendäres Gedicht an Gegenteiligem behauptet haben mochte? Schon damals aber hatte ihn das weniger beschäftigt als die Chancen dieser Enzensbergerschen Halluzination, dem mächtigen Festland vielleicht ja doch zu widerstehen, wenn auch nur für eine Weile. Oder vielleicht, mit tapfer-klugen langem Atem, sogar für Jahrzehnte, bis sich auch die riesige Volksrepublik gewandelt hätte, zumindest graduell?) 
Geruch von Benzin und Citrusbäumen und grünem Tee und verfaulten Durian-Früchten, von Gin und Parfum. Geräusche von Fahrradklingeln und scheppernden Kesseln, abendlichen Von-Fenster-zu-Fenster-Zurufen auf kantonesisch, Lachen, schrill oder auch sanft. Ein kleiner Tempel, und zwei Terrassen weiter unten, auf der Hollywood Road, Gebäude, die noch immer Namen wie Hoseinee House trugen, damals noch NGO´s beherbergten und darin toughe Hongkong-Frauen, die im Gespräch jegliches Gerede von Kulturkreisen und Traditionen und authentischen Werten sogleich zerpflückt und dechiffriert hatten als Sprache der Macht, die Unterordnung einforderte, Vergesslichkeit und Gehorsam.
Republic of Hongkong, hatte er da gedacht, kleine Schwester des freien Taiwan, und wäre fast auf die Knie gegangen vor solchen Frauen, obwohl er doch zu dieser Tageszeit noch gar nichts getrunken hatte und auch später, in einem Club mit dem ironischen Namen Propaganda, die grölenden rotgesichtigen westlichen expats zuerst mit Verwunderung, dann mit ungebremster Abscheu betrachten würde, da er in ihrem selbstgerechten Lallen über die als Hejkejkej abgekürzte und reduzierte Stadt so gar nichts wiederfand von der Wirklichkeit, die ihn hier umfing, von den Menschen, die ihm ihre Geschichten erzählt hatten, nicht selten Fluchtgeschichten.
Von Eltern und Großeltern, die aus Maos China nach Hongkong geflohen waren und sich hier eine neue Existenz aufgebaut hatten, von ganz unten. Oder einer wie Abbas, der Pakistani: Mit der Großfamilie aus einem Nest nördlich von Karachi gekommen, aber hier eben noch lange nicht den Zwängen der Sippe entkommen: Großer Abbas, der die Geschichte im winzigen Escalator Club erzählt hatte, wo er sich fast an der Decke der niedrigen Kabinen-Gevierte stieß und draußen im schmalen Gang von gleichaltrigen Chinesen Blicke kassierte, die inzwischen bewundernd waren und längst nicht mehr scheeläugig wie noch zu seiner Schulzeit, als der Hochgewachsene als Fremder Teufel verspottet worden war und die in ein paar Hochhauszimmern in den New Territories zusammengepferchte Verwandtschaft ihm geraten hatte, mehr zu beten, denn sie alle würden nur durch Gehorsam in dieser Stadt der Ungläubigen überleben, ins´allah.
„Eine wie Fermi Wong hat mir damals geholfen“, hatte Abbas damals gesagt, nunmehr auch schon vor zehn Jahren, während die beiden Besucher jetzt auf dem Weg zu eben jenem Escalator Club die Rolltreppe betreten, die als die weltweit längste gilt, mit Unterbrechungen auf jedem Straßenlevel. Fermi Wong, Aktivistin für die Rechte von Immigranten, die Wohnplätze und Stipendien und alles Mögliche zu organisieren wusste und auch einem wie diesem Abbas dabei geholfen hatte, zum Oberschüler und schließlich zum Studenten zu werden, zu einem, der am Wochenende bei den Pferderennen im Happy Valley in schneeweißem Dress (das wellige schwarze Haar gegelt) und für gute HKK-Dollar Erfrischungen in den Logen der Superreichen feilbot und selbstbewusst lächelnd die geflüsterten Quickie-Avancen der jungen Milliardärs-Töchter charmant ins Leere laufen ließ, denn das war in zweifachem Sinn nicht seine Welt. Business-Studium und Uni-Wohnheim, und sogar die Großfamilie - die ihn anfangs ebenso böse beäugt hatte wie einst die chinesischen Mitschüler - inzwischen besänftigt und die drängelnde Frage nach einer aus dem pakistanischen Herkunftsdorf herbeizuschaffenden Frau bislang immer hinausschiebend beantwortet. (Wo mochte Abbas jetzt sein, inzwischen ein Jahrzehnt älter und hoffentlich nicht inzwischen doch noch zum fettleibigen Familien-Unter-Tyrann geworden? Von Fermi Wong wussten sie indessen, dass sie nun seit letztem Sommer den jungen Demonstranten beistand, für sie Geld sammelte und in einer Wohnung, in der sie zur Sicherheit inkognito lebte, Atemmasken zum Schutz vor den Tränengasgeschossen der Polizei verteilte, dazu kleine Lebensmittelpakete. „Fermi Wong!“, hatte Abbas damals wiederholt, lächelnd und mit betontem Ausrufezeichen, dort auf dem schlauchartigen, mit einem zerschlissenen Teppich belegten Gang jenes Clubs, huldvoll mit seiner großen Hand die kleineren Hände der hier Geborenen abwehrend, die sich doch tatsächlich während ihres Gesprächs vorgewagt hatten und nun begannen, an dem Leinentuch, das er um die Hüfte trug, herumzunesteln als wär´s eine schräge Comic-Version von Gullivers Reisen.)

Sie verließen die Rolltreppe in Höhe Cochrane Street, stiegen ein paar Stufen abwärts, bis sie wieder Asphalt unter den Füßen hatten und ein unscheinbares Eckhaus vor sich sahen, in dessen Parterre sich ein Seven-Eleven-Lebensmittel-Shop befand. Daneben ein schmaler Eingang; zumindest das also hatte sich seither nicht verändert. „Tu n´as rien oubliè“, sagte H., doch galt es noch eine weitere Geschichte zu erinnern - kursorisch, in Stichworten - ehe sie beide eintreten und sich in den Miniatur-Aufzug drängen würden, um danach in der zweiten Etage an der Club-Tür zu läuten und im zentimeterbreiten Freiraum zwischen Holztheke und Glasscheibe zwei Spindschlüssel herübergeschoben bekämen, im Tausch gegen ein paar Scheine HKK-Dollars. (Wie banal und gleichzeitig beruhigend, dass es zumindest an solchen Orten noch vorhersehbar zuging, während sie vorhin die Demonstration auch deshalb verlassen hatten, weil mit Einbruch der Dämmerung die schwarzgekleideten Maskierten plötzlich zahlreicher geworden waren und sich nicht nur die zwei Besucher fragten, ob deren Masken in Wohnungen wie jener von Fermi Wong als Atemschutz ausgehändigt worden waren oder nicht womöglich auf Pekinger Geheiß verteilt wurden, um den bewaffneten Polizeieinheiten Vorwand zum Eingreifen zu liefern. Und noch am Fuß der Rolltreppe hatten sie breitbeinig postierte Uniformierte gesehen, in Nachbarschaft eines parkenden Wasserwerfers.)

„Neben Ginsberg und Prévert hatte ich auch die frühen Sachen Robbe-Grillets übersetzt, leider war Die blaue Villa in Hongkong nicht darunter, wobei das französische Original ja auch La maison de rendez-vous heißt und genau hier in Lan Kwai Fong spielt, in der Welt der Antiquitätenhändler, kleinen Gemüsegeschäfte und Bars, voll mit zwielichtigen Melancholikern.“
Der Dichter Leung Ping-kwan hatte gelacht, dann gehustet, den Husten mit Lungenkrebs erklärt und erneut gelacht, ein Melancholiker im Zwielicht des Foreign Correspondents´ Club an der Lower Albert Road, freundlicher kleiner Mann auf einer Lederbank, unterhalb der gerahmten Wandbilder, die historische Zeitungsseiten zeigten: Japans Eroberung Hongkongs im Dezember 1941 und die Befreiung im August vier Jahre später, der Handover vom Juli 1997 mit dem Herabsinken des Union Jack und einer am Fahnenmast aufgezogenen China-Flagge, dazu eine Karikatur, die eine heuchlerische Britannia beim Geldwechseln mit einem chinesischen Löwen zeigt, beide herumtretend auf den Bewohnern der Stadt. Herr Ping-kwan aber hatte gelacht (nun freilich in eher besorgtem Tonfall; auch diese Abstufung war ihm möglich gewesen) und über die bedrohten Freiheiten Hongkongs gesprochen. Dann las der 1949 in der Provinz Guangdong Geborene, dessen Eltern mit ihm als Kleinkind in die einstige Kronkolonie geflüchtet waren, dem europäischen Besucher eines seiner auf englisch übersetzten Langgedichte vor.
Binnen Sekunden hatte sich der traditionsreiche Journalistenclub, an diesem frühen Abend nur mäßig besucht, in eine Drehbühne und Zeitmaschine verwandelt, so dass ein unscheinbarer, fast ein wenig unansehnlicher Poet mit Nickelbrille und Dreitageschnurbärtchen augenblicklich wieder zu einem jungen Mann aus den Sechzigern und frühen Siebzigern geworden war, begeistert inmitten angeschwärmter Frauen in schweißnassen Polyester-Shirts und bunten Woodstock-Gewändern, angefixt von Motown und den Stones, in Schlaghosen und Kenntnis nächtlicher Drogen-Partys. Der zwei Jahrzehnte jüngere Besucher war den im doppelten, dreifachen Sinne freien Rhythmen hingerissen gefolgt und hatte gleichzeitig einen, nein: zwei Blicke aufgefangen. Am Nebentisch saß ein posh gekleidetes Paar, das er auf Mitte zwanzig schätzte, ein schlanker Hongkong-Chinese in seidig glänzendem, pomadisiertem Haar und ein vermutlich Indischstämmiger mit einem massiven silbernen Reifen am rechten Handgelenk. Lebendig gewordene Gestalten aus einem Sepia-Rahmen, beobachteten sie ihn ununterbrochen, während er dem Dichter lauschte, der - hier im FCC an der kurvenreichen, sich bergan schlängelnden Lower Albert Road - Erinnerungen an Abbey Road und Penny Lane wachrief, an Leonhard Cohen und Cat Stevens´ Peace Train, an Miss Robinson und an die frühe Marianne Faithfull - bis er wieder husten musste und einen weiteren Schluck bitter schmeckenden, doch belebenden Pu Erh-Tees nimmt.
Das Paar war inzwischen aufgestanden und verließ den Raum, während einer von ihnen eine Handbewegung machte, die dem Besucher zu gelten schien (der sich nun erneut in einer Art Balance wähnte, im Inneren eines weiteren Hongkong-Moments aus Gegenwart und Vergangenheit, Erinnerung und Kontemplation und Eleganz und Mutwillen und - auch das: aus weggehusteter Zukunftspanik). Wahrscheinlich würde er die beiden bald im Escalator Club wiedersehen und, wer weiß, inkommenden Jahren dann ebenfalls über diesen Abend schreiben, wenn vielleicht auch nicht im fluiden Zeilenbruch eines Langgedichts, das die Geschehnisse derart hatte ineinander gleiten lassen, dass sie sogar den offenbar todkranken Dichter verjüngt und geheilt hatten, für eine gewisse Zeit, die sich ebenfalls zu dehnen schien.

Sie waren an einem der Vortage im Foreign Correspondent´s Club gewesen, denn H., der zuvor - eine seiner Lektüre-Erinnerungen - über Paul Claudels erhaben unlesbares Hongkong-Drama Partage de Midi gespöttelt hatte, sollte ruhig einmal staunen angesichts der verbliebenen Reste von le monde anglo-saxon. Noch immer steckten langstielige Regenschirme in einem Teakholzständer, ungeöffnete Briefchen in Postfächern hinter dem verwaisten Portierstisch, doch gab es inzwischen auch einen Flachbildschirm: Tonloser CNN-Bericht von den Polizeiübergriffen während der vorangegangen Demonstrationen. Die gerahmten Zeitungsseiten hatten keinen Staub angesetzt, der Teppich nicht fusselig, das Messing des filigranen Treppengeländers nur in Maßen verfärbt. Es war lediglich so, dass außer ihnen im Basement niemand an denen Tischen saß und an der Bar ein weißbefrackter Kellner seinen Kopf auf die angewinkelten Unterarme gelegt hatte, als posiere er für die hiesige Version eines Hopper-Gemäldes. Und Herr Leung Ping-kwanwar fast auf den Tag genau seit sieben Jahren tot, verstorben am 5. Januar 2013 in einem der städtischen Krankenhäuser.

„Plutôt un appartement…“ Verblüffter H., der jetzt die gemütliche Winzigkeit des Escalator Clubs entdeckte, wo ihn die Einheimischen, die sich vor den Spinden um-, nein: auszogen, für einen Afroamerikaner hielten und sofort Fragen zu stellen begannen, da sich aufgrund der Massenproteste und Unruhen doch zu diesem Jahreswechsel kaum noch Ausländer in die Stadt gewagt hatten. H., der (wie einst Abbas) im Duschtrakt immer wieder an die Decken-Gestänge der Wasserleitungen stieß und danach den winzigen Salon inspizierte, sich dort auf der buntfarbigen und knarrenden Chaiselongue ausstreckte und fernsah: Der in einer Wandnische steckende Kleinbildfernseher zeigte die BBC-Aufnahmen der Demonstration, die sie vor einer knappen Stunde verlassen hatten: Nacht war hereingebrochen, Steine flogen, Polizeieinheiten jagten die Schwarzgekleideten, während sich Hunderte der verbliebenen Demonstranten an die Häuserwände und vergitterten Ladenfester drückten, mit und ohne Masken, ihre Free Hongkong-Schilder als dürftiger Schutz gegen Tränengasschwaden und die vertikal und horizontal ausschlagenden Polizeiknüppel.
Undenkbar, angesichts solcher Bilder dem nachzugehen, für das der Club doch geschaffen war und es deshalb zwischen Salon und Duschtrakt kleine zellenartige Abtrennungen gab, mittels Falttüren zu öffnen und zu schließen, der Boden mit einer Matratze belegt, an der Decke ein Spiegel und auf der Wandkonsole ein Gleitgelspender, ein Kästchen mit Kondomen, dazu ein Stapel frischer Papiertücher. Praktisches Asien! und die von den zwei Besuchern zögernd (und vielleicht ja ebenfalls ein wenig britannisch-heuchlerisch) vorgebrachten Einwände, eben jene Kabinen-Aktivitäten betreffend, von den anwesenden Club-Gästen weggelacht, da sie, so sagten sie in sanft entschiedenem Hongkong-Englisch, bis just vorhin ja ebenfalls an der Demonstration teilgenommen hätten – übrigens mit dem bösen Gefühl, diese wäre womöglich die letzte ihres Lebens gewesen, obwohl doch rechnerisch noch so viel Jahrzehnte vor ihnen lägen, haha. Lächelnde Münder, ausgestreckte Arme und die einladenden Handbewegungen exakt wie die jenes Paars vor einem Jahrzehnt, dem einer der Besucher damals hier tatsächlich wiederbegegnet war.
Irritierend jedoch nicht das Insistieren der Jetzigen, Studenten und frisch Diplomierten, die vor und nach den Körperspielen in den Gevierten überraschend gelassen von IT-Jobs und Auswanderung sprachen; überraschend, ja beängstigend die Natur ihres Gelächters: So nämlich hatte doch auch der Poet gelacht, wenn er nicht von der Abbey Road und den schönen Frauen vorgelesen, sondern über den wuchernden Krebs in der Lunge gesprochen hatte, powerful and mean like the Communist Party, haha. Haha!

Später dann ihre anderen Aufforderungen. Auf den Matratzen lagernd vorgebracht, die Leinentücher dabei längst wieder um die Hüften geschlungen, oder vor den Duschen, auf dem federknirschenden Sofa, vor den Spinden als Verpflichtung für die kommenden Tage und Abende hier in der Stadt: „Be observer!“
Mit nun geradezu grimmiger Eindringlichkeit wurde verlangt, fürderhin noch genauer auf die Spuren immer weiter ausgreifender festlandchinesischer Dominanz zu achten - und das nicht nur in den Medien und in den verdrucksten Verlautbarungen der peking-hörigen Stadtadministration von Chief Executive Carrie Lam. Natürlich, haha, würde für sie, die beiden auswärtigen gweilos, noch ungleich stärker als für uns, die in Hongkong nach 1997 relativ frei Geborenen, im Nebel bleiben, in exakt welcher Weise einheimische Tycoone mit den Festlandkommunisten dealten, welche Immobilien aufgrund welcher Zahlungen und/oder schmutziger Erpressungen die Besitzer wechselten, um die Demokratie zu opfern auf dem Altar eines autoritär bis totalitären Kapitalismus.
Sollte einer der beiden Besucher kurz die Augenbrauen gehoben haben, da doch inzwischen bei ihnen daheim immer öfter zu hören war, derartige Rede wäre lediglich westliche Dominanz-Begrifflichkeit und anachronistischer universalistischer Budenzauber, während doch die Asiaten…? Nun, die Asiaten an jenem Abend sprachen genau so, und einer von ihnen wusste sogar Rat, wie es anzustellen wäre, die verborgenen Machtstrukturen zu beschreiben: In einer packenden, recherche-satten Semi-Fiktionalisierung, wie sie allerdings zuletzt vor vier Jahrzehnten einem Romancier namens James Clavell in seinem ziegelsteindicken Hongkong-Bestseller „Noble House“ gelungen war. (Ha!) Doch - nur kein kleinmütiges Zögern innerhalb der großen Furcht - erweise sich auch eine bestimmte Phänomenologie des Alltags als erhellend genug, um zu begreifen, was sei: Ein Betrachten etwa der differierenden Verhaltensweisen im städtischen U-Bahn-System MTR, wenn Hongkonger auf dem Bahnsteig auf jenen schräg markierten Pfeilen warten, die den Weg zu den millimetergenau haltenden Wagentüren markieren, Festlandchinesen voller Einkaufsbeutel dagegen jedoch sofort losstürmen, ohne auf aussteigende Passagiere zu warten. Survival of he fittest schlägt rule of law, wieder einmal, im Grunde eine uralte Geschichte, doch würde das neueste Kapitel nun eben jetzt hier geschrieben,  jetzt und hier.
„Auch vergesst nicht die Teppiche und Buddha-Statuen, sogar die sind längst mehr als ein Symbol!“ Befänden sich die meisten Antikläden in der auf halber Berghöhe gelegenen Hollywood Road und Wyndham Street, einst die Beletage der Stadt, doch längst nicht mehr in Hongkonger Hand, sondern waren direkt oder über Mittelsmänner von Festlandchinesen, Parteifunktionären oder Geschäftsleuten aufgekauft worden - wahrscheinlich zur Geldwäsche, ganz sicher aber um Herrschaftspräsenz zu zeigen, gerade hier.

Mit derlei neuem Wissen dann ihre Verabschiedungen vor den lineal-breiten Spinden, heraus aus dem Club/dem Lift/dem Hauskorridor, von der Cochrane Street über die Wyndham Street zurück in jene Hollywood Road, die ihnen doch an all den Abenden zuvor, aus welch nostalgisch-irrationalen Gründen auch immer, als eine Art Noch-Refugium erschienen war.
Was sie also erst jetzt wirklich wahrnahmen: Die zu später Stunde noch immer geöffneten Läden, deren gefälschte (oder auch echte) Perserteppiche mit solch verächtlicher Gleichgültigkeit über das staubige Trottoir-Geländer geworfen waren, Abgasen und Feuchtigkeit preisgegeben, dass hier gewiss nicht potentielle Kunden angelockt, sondern eingesessene Geschäftsleute eingeschüchtert werden sollten: Wer kann, der kann. Und sollten - sie beide blieben jetzt erstmals stehen auf ihrem Weg hinunter zur Petticoat Lane, die ein Gässchen war und gleichzeitig eine Bar -  die hinter taghellen Vitrinenfenstern aufgestellten riesigen, auf alt getrimmten Buddha-Statuen tatsächlich naive Touristen übertölpeln, wenn doch ohnehin kaum noch Reisende in die Stadt kamen? Und Nein, sie alpträumten doch keineswegs, interpretierten nicht über, sahen nur dies: Das kalte, triumphierende Lächeln der drahtigen Galeristen-Darsteller im Inneren der Geschäfte, das so gar nichts hatte von der einladenden Mimik in den freundlich faltigen Gesichtern der Goldrandbrillen-Greise, die in anderen, älteren und vermutlich bald verschwindenden Antik-Läden ihre Schätze in sanftem Singsang bewarben. ( Und was, wenn solch ostentative Verachtung sogar mehr zeigen würde als die Bilder prügelnder Polizisten?)
Dann gingen sie die Treppenstufen zur Bar hinunter und blieben einen Moment am Eingang stehen, da hinter der geöffneten Tür  ein Bild sichtbar geworden war, nicht gemalt, folglich auch nicht zu verkaufen und wohl auch nicht zur Einschüchterung gemacht, da es doch fröhlich Tanzende und Trinkende zeigte, jene über Jahreswechsel in der Stadt verbliebene Europäer und Amerikaner und Australier, nun bereits vor Mitternacht schon blau, Shakira-Songs grölend, während im Hintergrund…Sie sahen, wie einer der Einheimischen, der ihnen noch kurz zuvor, halbnackt vor der Spindwand, vom offenen Geheimnis der Teppiche erzählt hatte, mit unbeteiligter Eleganz in die Tasche seines perfekt geschnittenen schwarzen Jacketts griff, ein silbernes Zigaretten-Etui entnahm und sich durch die lärmende crowd nach draußen schlängelte. Sie bewunderten die Ruhe und Zielstrebigkeit seiner Bewegungen, sahen - ihre Verständigung auch ohne Worte, über die Jahrzehnte hinweg - jedoch davon ab, das als ein hoffnungsvolles Symbol zu interpretieren für-was-auch-immer.

Und dann lasen sie an einem der folgenden Vormittage in der South China Morning Post von jener merkwürdigen Häufung von Lungenkrankheiten in der Stadt Wuhan, durchforschten die offizielle China Daily jedoch erfolglos nach weiteren Nachrichten, da dort das Tadeln der Hongkonger Bevölkerung noch immer nahezu alle Seiten einnahm. (Wobei, denn auch auf solches zu achten hatte man ihnen empfohlen, von Hongkong dortschon gar nicht mehr die Rede war, sondern von einer Special Administrative Region, in den Überschriften und Texten der Zeitung abgekürzt als SAR. SAR should not SAR must not SAR will SAR have to understand. „Klingt wie SARS“, sagte sie und noch lachten sie - traurig aus bislang nur einem Grund, in Vorahnung des Schicksals der Stadt. Überdies hatten sie am Sylvestervormitttag in einem Park Statuen entdeckt, in Menschengröße und menschlich-unheroisch, die an jene Ärzte und Krankenschwestern erinnerten, die ihren Einsatz gegen das SARS-Virus mit dem Leben bezahlt hatten, damals 2003. Und hatten dabei gedacht, naiv trotz allem: Abgeschlossene Vergangenheit, zumindest das.)

In der Nacht zum 8. Januar verließen sie die Stadt, die für sie immer Hongkong bleiben würde. Während des Flugs wurde die Route geändert, da über Teheran gerade ein ukrainisches Zivilflugzeug abgeschossen worden war. Davon - vom Leugnen des Mullah-Regimes und dem nachfolgenden Eingeständnis - erfuhren sie aber erst später. (Auch dies eine jener Nachrichten, die rasant untergehen würden im Strom des Kommenden.) Als sie Ende April hörten, dass die 73jährige Marianne Faithfull im Unterschied zu ihrem lebenslangen Freund die Corona-Infektion lebend überstanden hatten, dachten sie an das Langgedicht des Poeten Leung Ping-kwan, erinnert vor dem Escalator Club an einem Januartag, der nun bereits ebenfalls aus einer anderen Zeit schien. Oder war das nur ihre Ausländer-Optik? Kurz nachdem H. in der Post den kleinen Artikel über Wuhan entdeckt hatte, sahen sie auf den Straßen noch mehr Menschen als sonst, die Masken trugen. Ganz offensichtlich waren es andere als jene, die bei den Demonstrationen gegen das Tränengas der Polizei schützen sollten. (Und doch gab es gerade da einen Zusammenhang, der zu erspüren und zu erzählen war - hilfloses Unterfangen und vielleicht gerade deshalb notwendig.)

Am 30. Juni 2020 verabschiedete der sogenannte Volkskongress in Peking ein sogenanntes Sicherheitsgesetz für die sogenannte SAR. Es trat bereits am folgenden Tag in Kraft, worauf Joshua Wong die sofortige Auflösung seiner prodemokratischen Partei Demosisto bekannt gab: Das bedrohliche Partei-Kauderwelsch war  verstanden worden, dessen Konsequenzen einem jeden klar. (Und sie, die beiden Besucher? Hatten die letzten Tage eines freieren Hongkong miterlebt, die vermutlich allerletzte große freie  Demonstration und dazu die erste Nachricht von dem empfangen, was, von Peking noch eine Weile geleugnet, in den darauffolgenden Wochen den gesamten Globus erreichen würde. Und hätten eine Menge darum gegeben, nicht zu Zahngästen geworden zu sein von so etwas.)
Inzwischen trägt nahezu die ganze Welt Masken. Zu anderer Zeit, kurz nach dem sowjetischen Einmarsch in Prag, hatte W.H. Auden sein Gedicht August 1968 geschrieben. The Ogre does what ogres can,/ Deeds quite impossible for Man, But one prize is beyond his reach,/ The Ogre cannot master Speech:/ About a subjugated plain,/ The Ogre stalks with hands on hips,/ While drivel gushes from his lips.  

Nach den Lockerungen der Reisebeschränkungen waren sie Anfang Juli nach Prag aufgebrochen, vier Stunden Zugfahrt ab Berlin. Sie sparten sich die allzu optimistischen Brecht-Zeilen eines Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine/ Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag, aber was sie dann sahen, als Graffitis an Wänden, auf Flyern und Aufklebern, war doch dies: Jene Worte, die am Neujahrstag die Demonstranten skandiert hatten, um Freiheit für ihre Stadt zu fordern, quasi am anderen Ende der Welt. #StandwithHongKong in der Hennessy Road und (seit 1989 mit keiner Angst, keinem Risiko mehr verbunden und trotzdem verblüffend) nun auch in Prag: Und nichts davon war virtuell, jeder Buchstabe ein herausgestreckter Mittelfinger gegen die Oger dieser Welt.

Berlin, Juli 2020

Marko Martin, Jahrgang 1970, beschäftigte sich bereits 2008 in seinem Buch „Sonderzone“ mit Hongkongs Demokratiebewegung; zuletzt erschien in der Anderen Bibliothek sein Essayband „Dissidentisches Denken. Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“.